Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Buchempfehlung

Wie entstehen wissenschaftliche Tatsachen? Können Tatsachen überhaupt entstehen oder sind sie nicht immer schon vorhanden, bis sie eben jemand entdeckt? Bis beispielsweise ein Krankheitserreger gefunden und damit die Ursache für die Entstehung einer Krankheit nachgewiesen ist? Zeichnet sich Wissenschaft nicht gerade dadurch aus, dass sie sich von Fiktionen und Glaubenssätzen fernhält, dass sie Tatsachen nicht erfindet, sondern auf der Suche nach Erkenntnis vorfindet?

Wie naiv die Annahme ist, dass wissenschaftliche Erkenntnis unabhängig von ihren eigenen Voraussetzungen zu objektiven Tatsachen gelangt, zeigen die erstmals 1935 publizierten Aufsätze Ludwik Flecks, in denen er seine Lehre vom wissenschaftlichen Denkstil und Denkkollektiv erläutert.

Beeindruckend klar, schnörkellos und in der Absicht, sich einer reduktionistischen wie populären Auffassung von der Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen zu widersetzen, legt Fleck darin dar, warum gerade die Medizin unter dem Zwang steht, Tatsachen zu entdecken, die in den von ihr gesetzten Rahmen passen. Was dazu führt, dass sie letztlich immer nur Antworten finden kann, die in ihren Fragestellungen bereits enthalten sind. Wissenschaft erscheint somit als ein Denkkollektiv unter vielen – in sich logisch und schlüssig, von einem Denkstil getrieben, der Ausgangspunkt und Zielvorstellung zugleich hervorbringt.

Über den Autor

Ludwik Fleck wurde 1896 als Sohn polnisch-jüdischer Eltern geboren. Nach dem Abitur 1914 studierte er Medizin, promovierte und befasste sich intensiv mit Fragestellungen der Mikrobiologie. Schon während seiner Tätigkeit als Assistent und schließlich als Leiter verschiedener Labore gründete er ein privates bakteriologisches Laboratorium. Fleck befasste sich intensiv mit Diagnose-Verfahren (Tuberkulose und Syphilis) und serologischen Fragestellungen.

1941 wurde Fleck mitsamt Familie in das Ghetto von Lwów deportiert, wo er ein Verfahren entwickelte, um die dort grassierende Typhusepidemie einzudämmen. Die SS brachte ihn in ein pharmazeutisches Unternehmen, wo er Typhusimpfstoffe produzieren sollte.

1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, 1944 nach Buchenwald. Wieder sollte er gemeinsam mit anderen inhaftierten Ärzten und Wissenschaftlern Impfstoffe für die SS herstellen. Fleck und seine Kollegen sabotierten dies, indem sie wirkungslose Impfstoffe für die SS zubereiteten, wirksame Impfstoffe dagegen heimlich an Mithäftlinge vergaben.

Nach der Befreiung des KZ Buchenwald leitete Fleck eine Abteilung für medizinische Mikrobiologie, habilitierte schließlich und wurde Mitglied verschiedener bedeutender Akademien. Während er für seine praktische Tätigkeit auch weltweit Anerkennung fand, wurde seinen theoretischen Ausführungen weniger Beifall gezollt. Kein Wunder, denn sie passten nicht zum Zeitgeist, der „mechanistisch-analytische Erklärungen“ in der Medizin suchte, statt in den für ihn typischen „integrativ-synthetischen Beschreibungen“ (a.a.O. Seite X).

Fleck unterschied sich also schon in seiner Auffassung und Beobachtung der Faktoren, die an der Entstehung von Infektionskrankheiten beteiligt sind, von dem Gros seiner Zeitgenossen. Als erfolgreicher Arzt, Forscher und belesener Theoretiker erwies er sich als skeptisch gegenüber einer Auffassung, die den „Erreger“ als Ursache, die es zu bekämpfen gilt, betrachtete. Diese Skepsis äußert sich auch in seinen Aufsätzen zur Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen. Doch lässt sich seine Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv nicht darauf reduzieren.

 

Voraussetzungen, die die wissenschaftliche Erkenntnis ermöglichen und begrenzen

Wissenschaftliche Erkenntnis ereignet sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist an Zeiten, Orte, Personen, persönliche Verhältnisse und normative Vorgaben der Gesellschaft gekoppelt. Sie erfährt in ihrem Streben nach Objektivität Begrenzung durch

  • ein Denkkollektiv, innerhalb dessen der Wissenschaftler sozialisiert wird.
  • den innerhalb dieses Kollektivs vorherrschenden Denkstil, dessen Voraussetzungen und Methoden das gesamte „Wissensgebäude“ stützen.
  • externe Faktoren, beispielsweise die Frage, welche Probleme von der Gesellschaft als dringlich und wichtig angesehen und daher von der Wissenschaft behandelt oder gar gelöst werden sollen.

Nähert sich der Wissenschaftler einer Fragestellung, so hat er bereits eine lange Phase der Anpassung an das Denkkollektiv, zu dem er gehört, durchlaufen. Das Kollektiv lehrt ihn sehen und ignorieren, schlussfolgern und ausschließen, Begrifflichkeiten und Methoden anwenden, Wichtiges und Unwichtiges unterscheiden.

Der Wissenschaftler knüpft an das Wissen seiner Vorgänger an, ohne dies generell infrage stellen zu dürfen. Er ist einer Auffassung von Wirkmechanismen und Zusammenhängen unterworfen, die als allgemein anerkannte Standards gelten. Und er muss sich zumindest als unbekannter Neuling all diesen Voraussetzungen unterwerfen, um in das Kollektiv aufgenommen zu werden und darin Anerkennung zu finden.

Das Denkkollektiv erscheint somit als geschlossenes System, innerhalb dessen

  • Widerspruch undenkbar scheint.
  • Unpassendes ignoriert, verschwiegen oder uminterpretiert wird.
  • Sachverhalte den eigenen Anschauungen entsprechend gesehen und beschrieben werden.

Es verfolgt einen Denkstil, der „nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden“ vorgibt.

Er ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln. Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Tatsache vom Denkstil ist evident“ (a.a.O., Seite 85).

Daher besteht zwischen wissenschaftlicher Herangehensweise und Resultat kein logisches Verhältnis, welches das Kollektiv seiner Fraggestellung entsprechend definiert, sondern eine inhaltliche und formale Relation zum Denkstil, sodass die Beweise „sich ebenso oft nach den Auffassungen [richten], wie umgekehrt die Auffassungen nach den Beweisen“ (a.a.O., S.40).

Was nicht passt, kommt nicht ins Bild

Am Beispiel der einfachen kausalen Zuordnung von Erregern zu Krankheitsentstehung und Krankheitsverlauf konkretisiert Fleck, wie alles, was sich der wissenschaftlichen Auffassung widersetzt, ausgeblendet wird, nämlich der Umstand,

  • dass dieselben Bakterien auch bei Gesunden vorzufinden sind.
  • dass die gefundenen Mikroorganismen eine hohe Variabilität aufweisen und
  • dass die „Invasion eines Erregers, ein Ausnahmefall des Mechanismus der Entstehung einer Infektion ist“ (a.a.O., S. 43).

Was wir erkennen, hängt wesentlich davon ab, wie, wann und in welchem Zusammenhang wir es erblicken.

Hätte man die Löfflerschen Bazillen z.B. zuerst bei Gesunden gefunden, wären sie gar nicht isoliert worden. Sie würden auch wegen ihrer Beziehungslosigkeit zum Ursachenwahn der Epoche die notwendige Aufmerksamkeit niemals erweckt, niemals die nötige Arbeitsenergie erzwungen haben“ (a.a.O., S. 43).

Ursachenwahn und Urideen als treibende Kraft

Ein solcher „Ursachenwahn“ aber folgt dem Gebot, die Erforschung von Krankheiten so voranzutreiben, dass sich Ursachen isolieren und entsprechende therapeutische Mittel entwickeln lassen, die massentauglich sind. Schließlich steht auch die Wissenschaft unter Erfolgsdruck und unter dem Druck, sich selbst immer wieder neu zu legitimieren. So gesehen erscheint es dann einfacher, schnelle Erfolge in der Zuordnung von Krankheit und Mikroorganismen aufzuweisen, statt den Widersprüchen nachzugehen, die sich dabei zeigen.

Erkennen ist Fleck zufolge demnach keine „zweigliedrige Beziehung des Subjektes und Objektes, des Erkennenden und des Zu-Erkennenden“. „Der jeweilige Wissensbestand muß als grundsätzlicher Faktor jeder neuen Erkenntnis das dritte Beziehungsglied sein.“ 

Wir erkennen nicht einfach etwas, wir erkennen etwas auf Basis einer Grundlage, die wir als vernünftig, logisch, normativ und angemessen begreifen. Das Erkannte fügt sich dem harmonisch ein – stellt also grundlegende Denkgewohnheiten nicht prinzipiell infrage. Dabei zeigt sich, dass gewisse Urideen die Jahrhunderte auch dann überdauern, wenn wir die damit verbundenen Tatsachen völlig neu zu interpretieren gelernt haben. So findet sich beispielsweise die uralte Idee vom Krankheitsdämon, der uns überfällt und zu Boden streckt, noch in der Vorstellung vom bösen Erreger, gegen den wir mit allen Mitteln Krieg führen müssen.

Obwohl das Denksystem, unter dessen Prämissen sich die wissenschaftliche Tatsache herausbildet, sich also auf Voraussetzungen bezieht, die mit der Tatsache, die es zu entdecken gilt, wenig zu tun haben, beharrt es darauf, unumstößlich wahr und objektiv zu sein.

Das wissenschaftliche Denken grenzt sich ab gegen konkurrierende Denksysteme, wie etwa Magie oder Religion sie prägen. Dabei folgen diese – sofern sie stabil sind – ähnlichen Prinzipien. Wer damit vertraut ist, ihre Gesetze und Normen von den Autoritäten erlernt und ihre Komplexität erfasst hat, sieht darin nicht die Widersprüche, sondern die Schlüssigkeit der Erkenntnis, die sie ermöglichen. Denn alles, was wir denken und wahrnehmen können, stützt sich letztlich auf unsere Bereitschaft, es glauben und unsere Fähigkeit, es erkennen zu können und zu wollen.

Die Rolle von Elite (esoterischem Kreis) und Masse (exoterischem Kreis) im Denkkollektiv

Die Akzeptanz des Denkkollektivs ist nicht auf die kleine esoterische Gruppe, die Elite, begrenzt, die auf einem Fachgebiet maßgeblich an dessen Weiterentwicklung beteiligt ist. Sie muss sich zwingend auf breiter gesellschaftlicher Ebene etablieren. Bei der Weitergabe wissenschaftlicher Tatsachen ergibt es sich dann aber zwangsläufig, dass diese vereinfacht und veranschaulicht werden müssen, damit auch Laien sie verstehen.  Dies erfolgt vornehmlich durch Zeitschriften und heute natürlich auch über das Internet.

Schon der praktizierende Arzt, so führt Fleck hierzu aus, erhält aus dem Labor Befunde, die nicht nach wissenschaftlichen Standards formuliert sind und in denen Wesentliches weggelassen wird. Dies erweise sich aber als Notwendigkeit, da ein zu vorsichtiges Formulieren und Diagnostizieren zu keiner praktikablen Lösung führe.

Das Vereinfachen und Weglassen wird umso erforderlicher, je mehr man sich mit Publikationen an eine Öffentlichkeit wendet, die die Schlüssigkeit der Beweisführung letztlich nicht nachvollziehen kann, weil es ihr an entsprechender Vorbildung fehlt. So verbreiten sich im erweiterten Denkkollektiv beständig populärwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich als Allgemeinwissen etablieren, letztlich aber auf dem Vertrauen in Autoritäten und deren akzeptierte Denkstile beruhen.

Doch handelt es sich auch hier nicht um eine Einbahnstraße. Denn wenn die Elite auf die Akzeptanz durch die Masse angewiesen ist, dann bedeutet dies auch, dass sie deren Annahmen über die Wirklichkeit in gewissem Maß aufnehmen und bestätigen muss. Das populärwissenschaftliche Wissen gelangt dann auf diesem Weg in den engeren Kreis des Denkkollektivs zurück.

Bezug zur Gegenwart und Bedeutung für den aktuellen Diskurs

Ist das, was die Wissenschaft uns als Tatsachen präsentiert, wahr oder unwahr? Lässt sich der Begriff der Tatsache überhaupt noch verteidigen, wenn wir die Zwänge und Muster, aus denen Tatsachen entstehen, erkannt haben? Oder müssen wir akzeptieren, dass „alternativen Fakten“ die gleiche Bedeutung und Relevanz zukommt, wie wissenschaftlichen Forschungsergebnissen?

Der Umstand, dass wir etwas als wissenschaftlich bewiesene Tatsache betrachten, erhebt diese nicht in den Stand einer absoluten Wahrheit. Andererseits sind Tatsachen aber nichts, was wir uns beliebig zusammenschustern können. Tatsachen sind Ergebnisse, die innerhalb eines bestimmten Denkkollektivs als richtig, praktikabel und schlüssig erscheinen.

Sie bilden das aktuelle Wissen dieses Denkkollektivs ab und verweisen auf dessen Voraussetzungen, Grundlagen und Verfahren. Sie sollten uns jedoch nicht daran hindern, auch andere Wahrheiten anzuerkennen und andere Resultate für möglich und wahrscheinlich zu halten, sofern sie nicht isoliert zusammengesucht, sondern Teil eines schlüssigen Konzeptes sind, das wir als konkurrierenden Denkstil oder auch als persönliche Erfahrung begreifen können.

Die Konfrontation mit Denkkollektiven, die zu gänzlich anderen Resultaten gelangen, sollte uns ebenfalls nicht zu der überheblichen Auffassung bringen, dass wir irgendwie „weiter“, „gebildeter“, „fortschrittlicher“ wären als der Denkstil, den wir belächeln. Im Gegenteil.

Der wahre Forscher weiß, dass das Suchen und Fragen niemals ein Ende hat. Er weiß, was er alles nicht sehen darf, wenn er eine Gestalt oder eine Ursache erkennen will. Und er weicht den Widerständen, die sich ergeben, nicht aus, sondern nimmt sie zum Anlass, seine eigenen Erkenntnisse immer wieder zu überprüfen. Wo hat er aktiv versucht, die Ergebnisse ein klein wenig seiner Fragestellung und den erhofften Resultaten anzupassen? Und wo stößt er auf Argumente, die unabhängig von ihm selbst einen Erkenntnisgewinn ermöglichen?

Schließlich ist ein abgeschottetes Denksystem, das keinen Bezug außerhalb seiner selbst mehr kennt und keinen Widerspruch duldet, letztlich ein totalitäres System, das über kurz oder lang seinen eigenen Untergang herbeiführt.

Flecks Lehre vom Denkkollektiv steht nicht im Widerspruch zu dem Versuch, wissenschaftliche Tatsachen zu formulieren. Sie zeigt uns jedoch, wie schon eine kleine Veränderung in der Fragestellung den Blick auf die Entstehung und Behandlung von Krankheit vehement erneuern kann. Am Beispiel von Infektionskrankheiten wurde deutlich, dass Erreger und Krankheit nicht identisch sind. Dies ließe die Interpretation zu, dass Krankheit nicht eine Bedrohung darstellt, die wir bekämpfen müssen, sondern einen Versuch der Selbstheilung, von dem wir etwas lernen können. Allein die sich daraus ergebenden Fragestellungen würden uns eine neue Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit ermöglichen. 

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Alle Angaben zur Biografie und alle Zitate wurden entnommen aus:

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 312, erste Auflage 1980.

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